von: Erwin Knauß

Mit dem Namen Oberhessen vermag im allgemeinen die jüngere Generation, d. h. die ca. nach 1940 Geborenen nichts anzufangen; ältere Menschen verbinden damit bestimmte Vorstellungen, die aber gelegentlich erstaunlich unterschiedlich sind - und das durchaus zu Recht. Es scheint daher geboten, dem Begriff Oberhessen aus seiner geschichtlichen Entwicklung ein wenig näherzukommen und damit gewisse falsche Verbindungen richtigzustellen.

Als sich die Landgrafschaft Hessen im 13. Jahrhundert als reichsunmittelbare Territorialherrschaft herausbildete, hatte sie zwei größere, in sich zusammenhängende Gebiete, eines um die Stadt Kassel im Norden, und eines im Süden mit dem in der chattisch-fränkischen Zeit herausgebildeten Mittelpunkt der Amöneburg, die aber mainzisch blieb und - ebenfalls im 13. Jh. - ihren Vorrang innerhalb der hessischen Landgrafschaft an Marburg abtreten mußte. Zwischen dem hessischen Gebiet um Kassel und dem um Marburg lag bis 1450 die selbständige Grafschaft Ziegenhain und topographisch die Wasserscheide zwischen Rhein und Weser.

Zur Unterscheidung wurde der nördliche hessische Landesteil Niederhessen, der südliche dagegen Oberhessen genannt.

Schon unter dem ersten hessischen Landgrafen Heinrich I. kam es zu einer gewissen Herrschaftsteilung um 1300, obwohl das Land als Territorium noch zusammenblieb. Der oberhessische Landesteil wurde nun politisch für die Zeit des ausgehenden Mittelalters bis zur Regierungszeit Philipps d. Großmütigen als Oberfürstentum bezeichnet. Nach vorübergehender Zusammenführung kam es 1458 nach dem Tode Landgraf Ludwigs I. zu einer erneuten Herrschaftsteilung, die erst zu Beginn des 16. Jh. unter Philipp d. Großmütigen endgültig aufgehoben wurde.

Doch dessen unglückseliges Testament ließ 1567 aus dem ehemals oberhessischen Landesteil, dem sogenannten Oberfürstentum, eine eigene, selbständige Grafschaft mit dem Namen Hessen-Marburg unter dem Landgrafen Ludwig III. entstehen. Sie umfaßte ein Gebiet, das von der Gegend nördlich Frankenberg (heutiger Edersee) über Battenberg, Biedenkopf und Gladenbach bis nach Gießen und Butzbach reichte. Der Landrücken am Rande der Wetterau war ungefähr die südliche Begrenzung. Weiter im Osten gehörten Grünberg, Homberg/Ohm und Alsfeld dazu. Das Gebiet um Marburg und Kirchhain bildete das Zentrum.

Schon 1604 aber starb diese hessische Grafenlinie aus, und es begann nunmehr ein zähes Ringen zwischen Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt um das alte Oberhessen, das fast ein halbes Jahrhundert dauerte. Erst der blutige “Hessen-Krieg” (1645-1648) und das Ende des 30jährigen Krieges durch den Frieden von Münster und Osnabrück lösten den langwierigen Streit mit der Teilung der Grafschaft Hessen-Marburg. Nach schwierigen Verhandlungen bildete sich damals die Landesgrenze heraus. Der nördliche Teil des alten oberhessischen Landes mit Marburg, Kirchhain, Frankenberg und nun auch Ziegenhain wurde Landesteil der Landgrafschaft Hessen-Kassel, während der südliche Teil mit Gießen, Grünberg, Alsfeld und Butzbach ganz oder als Teilbesitz (wie z. B. der Hüttenberg und Butzbach) zur Landgrafschaft Hessen-Darmstadt kam.

Von nun an bis zum Jahre 1866 gab es in Wirklichkeit zwei verschiedene Landesteile, die sich Oberhessen nannten: Die südliche Region der Landgrafschaft Hessen-Kassel, ab 1815 Kurfürstentum Hessen, mit Marburg, Kirchhain, Frankenberg und Ziegenhain und das nördlich des Mains liegende Gebiet um Gießen, Grünberg, Alsfeld und Butzbach, das zur Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, ab 1806 Großherzogtum Hessen, zählte.

Das darmstädtische Oberhessen entwickelte sich nach Säkularisation (1803) und Mediatisierung (1806) innerhalb des Großherzogtums Hessen neben den Provinzen Starkenburg und Rheinhessen zum geschlossenen Gebiet der Provinz Oberhessen, nachdem die Reichsstadt Friedberg, die Solmser und Stolberg-Isenburger sowie die Riedeselschen Territorien um Schlitz und Lauterbach zu Hessen-Darmstadt gekommen war. Gießen wurde, obschon im äußersten Nordwesten der Provinz gelegen, nun Hauptstadt dieser Region. Als territoriale Besonderheit wies die darmstädtische Provinz Oberhessen als Relikt aus den Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges eine Art “Wurmfortsatz” auf. Von Gießen ausgehend erstreckte sich ein schmaler Korridor bei Krofdorf ins hessische Hinterland um Gladenbach. Dazu gehörten auch die Gebiete um Vöhl und Itter, bei Korbach und Frankenberg.

Das kurhessische Oberhessen wurde im Zuge der Verwaltungsreformen des 19. Jahrhunderts neben den Provinzen Niederhessen und Hanau ebenfalls zu einer eigenen Provinz Oberhessen im Kurfürstentum.

Während aber das nördliche Oberhessen mit dem Übergang des Kurfürstentums Hessen-Kassel an Preußen im Jahre 1866 seine verwaltungspolitische Bedeutung verlor und hier der Name Oberhessen zu einem reinen Landschaftsbegriff wurde - in dem 1867 gebildeten preußischen Regierungsbezirk Kassel gab es keine Verwaltungsgliederung mit der Bezeichnung Oberhessen -, blieb die Provinz Oberhessen im Großherzogtum Hessen-Darmstadt (bis 1918) und wie im Volksstaat Hessen eine verwaltungspolitische Größenordnung, bis die Nazidiktatur im Jahre 1937 schließlich die alten Provinzialverwaltungen auflöste und die Stadtkreise Darmstadt, Gießen, Mainz, Offenbach und Worms bildete.

Die darmstädtische Provinz Oberhessen umfaßte bis zu ihrer Auflösung rd. 3.300 km² mit ca. 350.000 Einwohnern in den Kreisen Gießen, Alsfeld, Schotten (bis 1938), Lauterbach, Büdingen und Friedberg. Sie hatte keine direkte territoriale Verbindung mit den hessischen Landesteilen Starkenburg (Darmstadt) und Rheinhessen (Mainz).

So ist der Name Oberhessen heute sowohl im Regierungsbezirk Kassel wie im Regierungsbezirk Gießen zu Hause und darf mit vollem Recht in beiden Regionen (um Marburg wie um Gießen) in Anspruch genommen werden. Doch ist seine Bedeutung als verwaltungspolitischer Begriff geschwunden, als Landschaftsbezeichnung aber darf er im Gebiet zwischen Frankenberg und Butzbach seine Berechtigung behaupten.

„Und in allen Gegensätzen steht ...

... – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.“ (Kurt Tucholsky)